Ottfried Neubecker wird 100
Dr. Ottfried Neubecker (* 22.
März 1908 in Berlin; † 08. Juli 1992 in Wiesbaden) war
einer der mit Abstand bekanntesten Heraldiker der Moderne.
Seine heraldische Laufbahn begann bereits in den „goldenen
Zwanzigern“; seither trug er durch seine beständige Arbeit
stetig dazu bei, dass die Heraldik einem immer größeren
Personenkreis zugänglich wurde. Nicht zuletzt war er
maßgeblich an der Etablierung der Heraldik auch im
Bürgerlichen Umfeld beteiligt. Mit seinen vielfältigen
Publikationen in Buchform und in heraldischen Zeitschriften trug er
auch dem wissenschaftlichen Aspekt der Heraldik Rechnung.
Aus Anlass seines 100. Geburtstages rezitieren wir hier einen Artikel
unseres Mitglieds Dr. Arnold Rabbow aus dem Flaggenkurier Nr. 16 vom
Dezember 2002 anlässlich seines 10. Todestages.
Ottfried Neubecker in memoriam 1992 – 2002
Im Juli 2002 jährte sich zum zehnten Mal der Todestag von Dr.
Ottfried Neubecker (22.3.1908 – 8.7.1992), einem der
bedeutendsten Vexillologe und Heraldiker des 20. Jahrhunderts. Auf dem
Gebiet der historischen Hilfswissenschaften war er ein wahrer
Polyhistor. Die Heraldik war ebenso sein Fachgebiet wie die Sphragistik
(Siegelkunde), Phaleristik (Ordenskunde), die religiöse Symbolik,
die Emblematik und vor allem die Flaggenkunde, die er als Wissenschaft
begründet hat, lange bevor die Bezeichnung Vexillologie für
sie aufkam.
Aber in keiner Disziplin war er bloßer Spezialist. Auf dem Boden
einer ungewöhnlich weit gefächerten Allgemeinbildung hob er
Forschungen und Diskussionen in seinen Fachgebieten auf ein vor ihm
allenfalls von Gustav A. Seyler erreichtes Niveau, war er als
Teilnehmer auf heraldischen und vexillologischen Kongressen ebenso
geschätzt wie gefürchtet, weil er mit Legenden und
Vorurteilen aufräumte und immer recht behielt.
Seine Bücher- und Materialsammlung mit rund 10.000 Büchern,
40.000 Blatt Materialien in mehr als 250 Ordnern voller Ausschnitte,
Gesetzes- und Verordnungstexte nebst einer 65.000 Siegel umfassenden
Sammlung war seinerzeit die größte
heraldisch-vexillologische Referenzdatei weltweit. Ihr vexillologischer
Teil gelangte nach seinem Tod und nach dem Scheitern europäischer
Bemühungen, sie zu erwerben, in den Besitz des amerikanischen Flag
Research Center.
In der Heraldik wie in der Vexillologie vereinigte Neubecker
wissenschaftliche Durchdringung mit schöpferischer Kraft.
Zahlreiche Wappen und Flaggen von Städten, Gemeinden und
Landkreisen ebenso von Familien stammen von seiner Hand,
mustergültige Beispiele einer von Schlacken befreiten, auf das
Wesentliche konzentrierten symbolhaften Darstellung, in
schnörkellosen, klarem Strich, der klassische Formen mit modernem
Stilempfinden versöhnte.
Sein wissenschaftliches Lebenswerk umfasst rund 800
Veröffentlichungen, von gewichtigen Büchern über
Sammelbilderalben, Zeitschriftenaufsätze, Lexikonartikel bis zu
Buchbesprechungen, die er dazu nutzte, um Irrtümer der Autoren
fachkundig richtig zustellen und ergänzende Informationen zu
liefern. Leider sind seine Schriften verstreut und schwer zu finden.
Von seinen Veröffentlichungen sind vor allem zu nennen:
„Heraldik, Wappen – ihr Urspruch, Sinn und Wert“
(1977), 2Deutsch und Französisch für Heraldiker“
(1934), „Das deutsche Wappen 1806/1871“ (1931),
„Fahnen und Flaggen“ (19399, „Ordensritterliche
Heraldik“ (im „Herold“ 1939740), „Historische
Fahnen“ (19329 „Länderwappen und Nationalfarben“
(1933), Flaggen der Welt, außereuropäische Staaten“
(1931), „Die Fahnen und Standarten der alten Armee“ (1933),
„Deutsche Stadtwappen aus West und Ost“ (1954),
„Gesamtdeutsche Flaggenpläne 1848-1850“ (im Deutschen
Schifffahrtsarchiv 1978) und das grundlegende Werk „Die deutschen
Farben“ (1929, zusammen mit Veit Valentin).
Auch regionale Themen fanden, breit gestreut in historischen und
landeskundlichen Zeitschrift, in ihm einen gründlichen Bearbeiter,
z.b. „Pfälzer Fahnen“ (in „Pfälzer
Wanderbuch“ 1932), „Die Fahnen und Standarten der Armee des
Königreiches Hannover“ (Zeitschrift für Heeres- und
Uniformkunde 1934/35), „Die Flagge von Hannover“ und
„Welche Flaggen waren bei Langensalza“ (beide in den
Hannoverschen Geschichtsblättern), sowie (zusammen mit Günter
Mattern) die Beiträge zu den Fahnen und Flaggen deutscher
Länder im „Kleeblatt“ 1976/81.
1926 publizierte er zusammen mit Erik Wolf in einer Broschüre
„Die Reichseinheitsflagge“ (Heidelberg 1926) einen gut
begründeten und vernünftigen Vorschlag einer deutschen
Nationalflagge (Schwarz-Gelb-Rot), der den Flaggenstreit zwischen
Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold, der die ganze Weimarer
Republik vergiftete, hätte beenden können, wenn die
widerstreitenden Parteien sich auf ihn verständigt hätten.
Die Zeitschrift „Herold“ des gleichnamigen deutschen
heraldischen Vereins machte er zwischen 1940 und 1960 durch seine
„Heraldische Rundschau“ betitelten Beiträge zum ersten
(auch) vexillologischen Periodikum der Welt, denn er behandelte darin
unter dem Stichwort „Staatliche Hoheitszeichen“ auch
Flaggen und Fahnen.
Als akademischer Lehrbeauftragter u.a. an der FU Berlin brachte er das
heute an den Universitäten vernachlässigte Fach Heraldik
– schon früh mit Ausblicken auf die Vexillologie –
vielen Studenten nahe, von denen manche es später ein Leben lang
pflegten. Als Persönlichkeit stets geistreich, witzig und
begeisternd, war sein Leben dennoch von Tragik berührt. Eine
seinem Wissen und Können gemäße Anstellung im
Universitätsbereich erlangte er nicht, schlug sich vielmehr mit
Auftragsarbeiten durch, so als Assistent des Reichskunstwarts in der
Weimarer Republik, als fachlicher Berater der amtlichen Publikationen
des Reichsinnenministeriums „Wappen und Flaggen des Deutschen
Reiches und der deutschen Länder“ 1928/29, „Die
Hoheitszeichen des Deutschen Reichs, Wappen, Flaggen und
Kokarden“ 1930, als Verfasser einschlägiger Beiträge
für in- und ausländische Lexika und Fachzeitschriften und
– mit wohl der größten Breitenwirkung – als
Autor und teils auch Illustrator der damals sehr populären
Sammelbilderalben mit Wappen, Fahnen und Flaggen.
In der NS-Zeit unter Druck, weil er der Gleichschaltung der Heraldik
und dem Runen-Wahn mannhaft widerstand und weil er sich von seiner
„nicht-arischen“ Frau nicht trennen wollte, überlebte
er, weil das Oberkommando der Marine ihn als unentbehrlichen Bearbeiter
des heute weltberühmten und unerreichten Flaggenbuches von 1939
deckte.
Im Berliner „Herold“ war er der unbestritten führende
und erst recht vexillologische Kenner. Aber eine Fehde mit der
„grauen Eminenz“ des Vereins, Jürgen Arndt, der ihn
aus dem Verein herausdrängte, nahm ihm die Basis und
verdüsterte sein Leben. Eine Gegengründung
„Wappen-Herold“ florierte nicht, obwohl er dort eine
exzellente Zeitschrift „Tappert“ (Heroldsrock) mit etlichen
Nummern herausbrachte. Versuche junger Vereinsmitglieder, einen
Brückenschlag herbeizuführen, scheiterten an der damaligen
Bunker-Mentalität des von Arndt beherrschten
„Herold“-Vorstandes. Der „Herold“ verdorrte
heraldisch; Neubecker aber war, außerhalb des regionalen
heraldischen Vereins „Kleeblatt“, in Deutschland,
wenngleich keineswegs in der übrigen Welt, isoliert.
Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und seine Sammlungen zu
sichern, verdingte er sich als Berater bei „Pro Heraldica“,
wo er streng auf heraldische Qualität der Neuschöpfungen
achtete, die sich dank ihm von den Erzeugnissen anderer kommerzieller
Institute vorteilhaft abhoben. Der „Herold“ schmähte
ihn deshalb, obwohl Wappenschöpfungen, -prüfungen und
–eintragungen seit den Zeiten der Kaiser und Hofpfalzgrafen stets
auch Geld gekostet haben.
Neubeckers unanfechtbare Maßstäbe wurden von der
Internationalen Akademie der Heraldik anerkannt, deren
langjähriges Vorstandsmitglied er war, wie er auch zahlreichen
ausländischen heraldischen und vexillologischen Gesellschaften als
hochgeschätztes Mitglied angehörte und mit Preisen und
Auszeichnungen gewürdigt wurde. Von 1973 bis 1981 war er
Präsident der Internationalen Föderation vexillologischer
Vereinigungen (FIAV) und von 1981 bis 1983 ihr Generalsekretär.
1983 ehrten ihn die Fachkollegen aus aller Welt mit einer Festschrift
zum 75. Geburtstag, die als Jubiläumsausgabe Nr. 100 des Flag
Bulletin erschien.
Nur schwerwiegende gesundheitliche Probleme in seinem letzten
Lebensjahrzehnt und sein Tod 1992 verhinderten, dass Neubecker zu einem
der Gründerväter der Deutschen Gesellschaft für
Flaggenkunde wurde, die gleichwohl dem ersten Vexillologen, der auch
für unsere wissenschaftlichen Bestrebungen Maßstäbe
gesetzt hat, ein ehrendes Andenken bewahrt.
Arnold Rabbow
© DGF
Stand: 21.03.2008
JM