Jiri Tenora
Die ugrofinnischen Stämme der Mari, früher auch unter der Bezeichnung Tscheremissen bekannt, bildeten in den früheren Zeiten nie einen eigenen Staat. Ihre Existenz am heutigen Standort ist seit dem 6. Jahrhundert dokumentiert. Im 10.-12. Jahrhundert standen sie unter dem Einfluß der Wolga-Bulgaren (auch Bolgaren genannt). In den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts wurde das Gebiet von Mongolen erobert und gehörte seit dieser Zeit zur Goldenen Horde. Nach deren Zerfall wurde das Gebiet teils Beute der russischen Fürsten, teils des Kasaner Chanats. Im Jahre 1551 wurde das ganze Gebiet Rußland eingegliedert und vom 17. Jahrhundert an schrittweise russifiziert.
Nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki wurde am 4. November 1920 das Autonome Gebiet der Mari im Rahmen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) errichtet. Die "Stalinsche" Verfassung vom 5. Dezember 1936 gründete eine in der sowjetischen Staatshierarchie höhere Einheit, die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Mari. Der Staat der Mari entstand also erst unter der sowjetisch-russischen Hegemonie.
Die Desintegration der Sowjetunion führte im Oktober 1990 zur Deklaration der staatlichen Souveränität. Das Gebiet hat sich selbst den höchsten Rang in der sowjetischen Staatshierarchie zugelegt: die Mariische Sozialistische Sowjetrepublik. Diesen Rang besaßen nur große territoriale Einheiten, die an der Außengrenze der Sowjetunion lagen, beispielsweise Weißrußland, Georgien oder Usbekistan. Die Begründung von 1936 war einfach: Diese Republiken hatten nämlich das in der Verfassung verbriefte Recht, jederzeit aus der Union austreten zu können. Die anderen hätten das jedoch nicht verwirklichen können, waren sie doch von allen Seiten von der Sowjetunion eingekreist. Daß dieses Recht lediglich auf dem Papier stand, versteht sich von selbst. Es war ein formales Recht, mit dessen Realisierung sich kein führender sowjetischer Politiker, welcher Nationalität auch immer, befaßte. Heute ist Marij El eine autonome Republik, im Wortlaut der gültigen russischen Verfassung ein Subjekt der Russischen Föderation, das heißt ein konstituierendes Bestandteil der Föderation.
Das Wort Mari bedeutet in der Landessprache "Menschen" und Marij El - das Land der Menschen. Zum besseren Verständnis: Die Republik umfaßt 23.200 km2, das ist ungefähr soviel wie Belize, Djibuti oder Israel. Die Bevölkerung zählt über 760.000 Einwohner, also soviel wie es Menschen in Bhutan, Djibuti oder Guyana gibt. Die Nationalitätenzusammensetzung ergab 1989 laut "Fischer Weltalmanach 97" 43,3% Mari, 47,5% Russen und 5,9% Tataren.
Die ersten mariischen Flaggen können nicht als besonders interessant betrachtet werden, weil sie in der Ära der Sowjetunion entstanden sind. In der ersten Verfassung, angenommen am 21. Juni 1937 vom 11. Sonderkongreß des Obersten Sowjets der Mari, besagte Artikel 112: "Die Staatsflagge der ASSR der Mari ist die Staatsflagge der RSFSR, bestehend aus einem roten Tuch, in dessen Obereck sich die goldenen Buchstaben RSFSR in russischer und mariischer Sprache und darunter in kleineren Buchstaben Mari ASSR in russischer und mariischer Sprache befinden."
Die zweite unterschied sich kaum, sie wurde durch die Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets der ASSR der Mari eingeführt, das entsprechende Gesetz datiert vom 19. Juni 1954. Auch diese war gleichgeartet wie die Flagge der RSFSR, mit dem Unterschied, daß unter Hammer und Sichel der Name des Gebietes in gelben Buchstaben stand: ASSR der Mari. Es wurde nicht festgelegt, in welcher Sprache, was zu jener Zeit ohne Bedeutung blieb.
Die heutige Flagge ist aus vexillologischer Sicht viel interessanter. Sie wurde am 3. September 1992 vom Obersten Sowjet (Oberster Rat, Parlament) der Republik Mari El gebilligt. Mittlerweile sind die sinnlosen Attribute "sowjetisch" und "sozialistisch" verschwunden.
Die Arbeit an den Staatssymbolen fiel nicht gerade leicht, da aus der Vergangenheit keine Anhaltspunkte überliefert waren. Wissenschafter fanden zwar, daß die Vorahnen der Mari Banner führten, aber weder die Form noch das Material oder die Farben sind heute bekannt. Nur der Name ist erhalten geblieben: "Tisten", was selbstverständlich für die Schaffung von Staatssymbolen nicht ausreicht.
Im März 1992 wurden Flaggen- und Wappenentwürfe in der örtlichen Presse veröffentlicht. Hier seien einige vorgestellt.
Historiker und Künstler mußten buchstäblich bei Null beginnen. Das Ehrenmitglied der Ethnografischen Gesellschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften W. A. Akzorin und der verdiente Kulturschaffende I. W. Jefimow urteilten, daß zu den traditionsreichsten Folklorefarben in erster Linie Braun, dann auch Gelb und Weiß gehörten. Die Mythologie und die damit verbundenen Legenden erzählen, daß das Leben auf Erden aus braunem Lehm entstanden sei. Der oberste Gott Kugu-Jumo gab ihn seinem jüngeren Bruder, der als Vogel im Urozean schwamm. Was Gelb anbelangt, glauben viele ugrofinnische Völker, daß die Sonne ursprünglich das Eigelb des Universumsei bildete. Dieses Ei legte in der Gestalt einer Ente die Himmelsgöttin Ilmatayurt. Alle Planeten entstanden später aus ihren Eiern. Demzufolge bedeutet Gelb die Sonne, Weiß verkörpert das Leben, das Gute und die Gerechtigkeit. Akzorin und Jefimow sind zum Schluß gelangt, daß eine braun-gelb-weiße Flagge im Stande wäre, die Völkerfreundschaft, den Humanismus, das verständnisvolle Verhältnis zur Natur und zum All, zum Leben im allgemeinen darzustellen.
Ein weiterer Vorschlag, der von G. N. Buligin und W. G. Kasakow stammte, zeigte drei hellblau-weiß-grüne waagerechte Streifen im Verhältnis 2:3:2. Auf dem weißen Streifen in der Lieknähe befand sich ein Teil des Nationalornamentes in rotbrauner Farbe. Die Autoren begründeten die Symbolik wie folgt: Hellblau sollte nicht nur den Himmel versinnbildlichen, sondern auch die Gewässer, das heißt den Urozean der Legenden. Weiß stand für die Reinheit der Absichten des Volkes der Mari, für die Arbeits- und Feiertagskleidung sowie für den Frieden. Grün erinnerte an die Kultstätten, an die Zeremonien der Vorfahren in Kulthainen .
Dieser Entwurf kombinierte lediglich zwei Farben, Weiß und Grün. Das National-ornament erhielt hier die Gestalt einer grünen Konifere. Die Wälder dehnen sich über die Hälfte des Territoriums der Republik aus, sie charakterisieren vortrefflich das Land und die hier lebenden Menschen .
Angenommen wurde der Entwurf von G. N. Bulygin und W. G. Kasakow, bestehend aus drei Streifen, azurblau oben, weiß in der Mitte und rot unten. Sie verhalten sich zueinander wie 1:2:1. Das sind eigentlich die russischen Farben, um zu zeigen, daß Marij El als konstituierende Entität zur Russischen Föderation gehört. Das Fragment des nationalen Ornaments ist im doppelten Sinne ein Identitätszeichen. Es stellt einerseits ein archaisches Element des Agrarkultes dar - die stilisierte Gestalt der Sonne und damit das Sinnbild der Fruchtbarkeit, des Lebens, der Ewigkeit. Die rotbraune Farbe andererseits deutet auf die uralte, bereits erwähnte Legende der Mari .
Ich werde hier die Flaggengeometrie nicht ausführlich beschreiben. Erstens ist sie aus der offiziellen Abbildung deutlich ersichtlich und zweitens im Gesetz, das die Anlage zu meiner Mitteilung bildet, genau beschrieben. Eine vexillologische Besonderheit: Das Emblem ist nur auf dem Avers aufgenäht, das Revers zeigt lediglich drei Farbstreifen.
Die Flagge zeigt drei Farben, Weiß versteht sich von selbst, Rot genauso. Der Gesetzgeber hat aber zwei weitere Farben wir folgt bezeichnet: Azurblau und Rotbraun. Im solchen Fall schreibt die FIAV-Norm vor: "Colors other than those listed shall be written out in full." Meine Vorschläge aus Zürich, auch solche Farben mit einem Kürzel zu definieren, wurden verworfen. Anders gesagt, der Gesetzestext müßte genügen. Ich schlage folgende Pantone-Farben vor: für hellblau 279C, für rot 032C und für rotbraun.186C.
Zum Schluß noch einen wichtigen Hinweis, vielleicht den wichtigsten. In verschiedenen Flaggenpublikationen wurden vereinfachte Flaggendarstellungen präsentiert, die jedoch frei erfunden waren. Einige zeigten lediglich drei Streifen in richtigen Farben, hellblau, weiß und rot, aber ohne das rotbraune Emblem und ohne die Aufschrift in derselben Farbe, eine Art "Arme-Leute-Flagge". Andere wiederum reduzierten die braunen Symbole auf einen schmalen waagerechten Streifen, der durch den ganzen mittleren durchlief. Das alles war vollkommen falsch. Laut Mitteilung des Historikers W. Scharow, Konsultant des Sekretariats der Staatsversammlung (des Parlaments) der Republik Marij El, gab es solche vereinfachten Varianten nie, sie wurden auf dem Territorium der Republik nie gehißt, nie verwendet weder von der Bevölkerung noch von den Staatsorganen.
Zugegeben, es ist nicht immer leicht, von neuen Flaggen die irgendwo in der Welt entstehen, sofort richtige Informationen zu erhalten. Diese Schwierigkeit kennen viele von uns. Es ist aber unverantwortlich, wenn jemand ungenaue, ungeprüfte Angaben über eine neue Flagge in die Welt setzt, nur um als erster den Ruhm zu ernten, nur um als erster Informant der vexillologischen Gemeinschaft zu gelten. Noch schlimmer ist es jedoch, wenn jemand frei erfundene Flaggen veröffentlicht und sie den Vexillologen - und nicht jeder hat die Möglichkeit, sie zu überprüfen - für bare Münze verkauft. Das ist schon Betrug.
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Quellen: Verordnung über die Staatsflagge der Republik Marij El.
W. Saprykow: Simwoly plodorodija (Die Symbole der Fruchtbarkeit), Nauka i shisn Nr.3/95, S. 25-27.
Briefe von W. Scharow v. 26.10.1995 und 06.03.1997.
Flag Information Code, FB XXI:1, 1982, S. 37.
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Anlage: Verordnung über die Staatsflagge
Bestätigt
durch den Beschluß des Obersten Rates
der Republik Marij El Nr. 368-III vom 3. September 1992
V E R O R D N U N G
Über die Staatsflagge der Republik Marij El
1. Die Staatsflagge der Republik Marij El ist ein Staatssymbol der Republik Marij El.
2. Die Staatsflagge der Republik Marij El besteht aus einem rechteckigen Tuch mit drei waagerechten Streifen: Der obere Streifen ist azurblau und 1/4 der Flaggenhöhe breit, der mittlere Streifen ist weiß und 1/2 der Flaggenhöhe breit, der untere Streifen ist rot und 1/4 der Flaggenhöhe breit. Die Flaggenbreite verhält sich zur Flaggenlänge wie 1:2.
In der linken Hälfte des weißen Streifens, nahe dem Flaggstock, ist ein Fragment eines mariischen Nationalornamentes dargestellt. Es ist in einem Quadrat eingeschrieben, dessen Kante 1/4 der Flaggenhöhe entspricht. Darunter befindet sich die Aufschrift MARIJ EL. Das Emblem und die Inschrift sind rotbraun. Der Abstand der geometrischen Mitte des Ornaments zum Liek beträgt 1/2 der Flaggenhöhe und zum unteren Rand des blauen Streifens 1/5 der Flaggenhöhe. Die Breite der Ornamentslinien beträgt 1/50 der Flaggenhöhe.
Die Inschrift MARIJ EL ist in einem Rechteck eingeschrieben, dessen Kanten 1/4 und 1/10 der Flaggenhöhe betragen. Dieses Rechteck liegt unter dem Ornament 1/20 der Flaggenhöhe vom oberen Rand des roten Streifens entfernt. Die Höhe der kleinen Kapitälchen beträgt 3/4 der Höhe der großen Kapitälchen. Die Buchstabenlinien sind 1/10 der Höhe der kleinen Kapitälchen breit.
3. Die Staatsflagge der Republik Marij El wird gehißt:
1) auf den Gebäuden, in welchen der Präsident der Republik Marij El, der Oberste Rat der Republik Marij El, die Regierung der Republik Marij El, die örtlichen Räte der Volksdeputierten und die Verwaltungsoberhäupter untergebracht sind - ständig;
2) auf den Gebäuden, in welchen die Sitzungen des Obersten Rates der Republik Marij El und der örtlichen Räte der Volksdeputierten stattfinden - während der ganzen Dauer der Sitzung;
3) auf den Gebäuden der Ministerien, der Staatskomitees, der Behörden und anderer staatlicher Organe der Republik Marij El, der Betriebe, Verwaltungen und Organisationen sowie auf Wohnhäusern an Feier- und Gedenktagen.
4. Die Staatsflagge der Republik Marij El kann anläßlich von Zeremonien und anderen Festlichkeiten, die durch staatliche Organe oder gesellschaftliche Organisationen veranstaltet werden, gehißt werden.
5. Falls die Flaggen der Russischen Föderation und der Republik Marij El gemeinsam gehißt werden, müssen sie sich auf gleicher Ebene befinden.
6. Die Skizze der Staatsflagge der Republik Marij El wird auf den Brustabzeichen der Volksdeputierten der Republik Marij El und der örtlichen Räte der Volksdeputierten dargestellt.
7. Die Staatsflagge der Republik Marij El und deren Darstellungen müssen, unabhängig von den Abmessungen, immer genau der farbigen und der schwarz-weißen Zeichnung der Anlage zu dieser Verordnung entsprechen.
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